Eher Tragödie als „Marktbereinigung“

Eher Tragödie als „Marktbereinigung“

Ein Medienunternehmen nach dem anderen geht in Kurzarbeit. Die Einschätzung, dass der Lockdown für die Medienbranche zu einer Heimsuchung biblischen Ausmaßes werden kann, verdichtet sich. „Insolvenzen nicht ausgeschlossen“, meldet der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger und erwartet eine „Marktbereinigung“. Eine „Marktbereinigung“ oder ein Drama ist das, was wir zurzeit erleben (müssen), jedoch nicht. Eher schon eine Tragödie, denn per definitionem war das Ende des Weges vorhersehbar, auf den sich die Mehrzahl der Zeitungs- und Zeitschriftenhäuser vor gut 20 Jahren gemacht haben.

Verlagskrisen waren vor allem Krisen für Journalisten

Journalismus und Publishing liegen mir am Herzen. In welcher Form Wörter, Bilder und Grafiken auch immer Leser, Internetnutzer, Zuhörer und Zuschauer finden. Wenn sie integer recherchiert, clever durchdacht, gut aufbereitet, formatgerecht präsentiert werden und die Informations- und Servicebedürfnisse ihrer Anspruchsgruppen treffen, haben sie einen eigenen Wert. Sie machen die Qualität von Medien aus, formen ihren Charakter und bilden die Marke.

Wer die Branche kritisch begleitet – und das tue ich nach Positionen in diversen Chefredaktionen, im Verlagsmanagement und seit zehn Jahren in der Medienberatung –, weiß aber, dass Geschäftsführer in Verlagen und Medienhäusern redaktionellen Leistungen mitunter nicht immer die Anerkennung gegeben haben, die ihnen zugekommen wäre. Dafür verantwortlich ist vor allem, aber nicht ausschließlich, die wirtschaftliche Entwicklung: Die geplatzte Blase des Web 2.0 mit seinen hochgejazzten Profitfantasien, die Verlagskrise in den Jahren 2010/11 nach der globalen Finanzkrise 2008/09 und die enttäuschten Erwartungen an die Monetarisierungsfähigkeit digitaler Angebote. Das alles hat dazu beigetragen, dass aktuell nur noch rund 60 Prozent der Zahl an Redakteuren in fest angestellten Arbeitsverhältnissen tätig sind als noch vor zwei Jahrzehnten.

Redaktionen wurden ausgedünnt

Jede dieser Krisen hat dazu beigetragen, die Redaktionen in Medienhäusern ein Stück weit mehr auszudünnen. In keinem anderen Bereich wurden Arbeitsplätze derart dezimiert, und ich habe in dieser Zeit selbst erlebt, dass die Großen der Unternehmensberatungsbranche über Verlagsflure hetzten, um nach „überflüssigen“ Schreiberlingen zu fahnden. Nichts wirkte (aus Sicht ihrer Kunden) effektiver, als „überbesetzte“ Redaktionen zahlenmäßig zu kürzen, Redakteure vor der Altersgrenze in vorgezogene und staatlicherseits kofinanzierte Altersteilzeitlösungen zu drängen, offene Stellen nicht mehr zu besetzen und/oder mit Praktikanten auszuhelfen…

Bei allen Medienkongressen und Fachtagungen wurde zugleich „Qualitätsjournalismus“ gepriesen, Journalistenpreise wurden inflationär – und Parolen wie „Content is King“ gehören seit langem zum Selbstbild der Branche. Jeder weiß (theoretisch), dass mit großer Sorgfalt an Inhalten gefeilt werden muss, weil

  • die Informationsdichte durch eine immer noch steigende Zahl an Nachrichtenformaten weiter zunimmt,
  • der durchschnittliche Medienkonsument mit der Verarbeitung an Informationen zugleich hoffnungslos überfordert ist und sich eine Art von kognitiver Ermüdung breitgemacht hat,
  • seine Aufmerksamkeit deshalb immer schwerer zu gewinnen ist
  • und viele Informationen zudem kostenlos im Internet abgerufen werden können.

 

Das gilt für alle Mediensegmente, für Zeitungen, Publikums- und Fachzeitschriften, für Fernsehen und Hörfunk und auch für digitale Medien.

Investments in Technologien

Trotzdem hat man vielerorts die falschen Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen gezogen: Investiert wurde vor allem in Werbemärkte, in Veranstaltungsformate und in Technik. Ja, Content Management Systeme zum Beispiel sind eine notwendige  Voraussetzung für die zeitgemäße Erstellung und multimediale Verteilung von redaktionellen Inhalten – aber sie können den Redakteur als Menschen nicht ersetzen. Es sind Werkzeuge, nicht mehr und nicht weniger. Sie knüpfen keine Kontakte zu Lesern, sie recherchieren nicht, sie inspirieren nicht. Weder Leser und Nutzer noch Redakteure.

Viele Arbeitsvorgänge in der sogenannten „Inhalteproduktion“ lassen sich standardisieren und vereinfachen, Prozesse können effizienter gestaltet werden, Maschinenintelligenz kann Workflows unterstützen. Am Ende des Tages jedoch hängt die Qualität der Inhalte – der Themen und der Beiträge – am Menschen. Und nur am Menschen!

Stöbern wir durch die Programme von Medienkongressen der vergangenen Jahre wird schnell offensichtlich, wie verräterisch die Themen und Titel der hoch gepriesenen „Future-Labs“ & Co. heute auf uns wirken: KI (Künstliche Intelligenz), Machine Learning, Robot-Journalismus, Data-Management, Big- und Smart-Data, Digital Business Modelling.
Der Mensch spielt im „Future-Lab“ kaum noch eine Rolle, außer als Bedienpersonal im Maschinenraum einer Brave New World. Dabei – und auch das ist keine Randnotiz –, prägen die Global Player, die Schönen und Reichen, die „Wer-hat-sie-noch-nicht-gesehen“ der Branche auf den Podien und in den Salons das Bild. Mehr noch: Sie geben den Ton vor und setzen die Themen.

Fatale Abhängigkeit von Werbemärkten

Dennoch: Wenn es denn tatsächlich zu einer breiten technologischen Offensive in der Branche gekommen wäre, insbesondere auf dem Feld der Digitalisierung, könnten wir uns zumindest über zukunftsfähige Lösungen bei der Auswahl von Verfahren und Tools freuen. Doch auch das ist ja nur in Ansätzen der Fall: Besonders in klein- und mittelständischen Verlagen sind digitalisierte Geschäftsprozesse eher selten anzutreffen. Mit der Innovationsfähigkeit ist es oft nicht weit her…

Besonders fatal wirkt sich jetzt jedoch die Abhängigkeit vieler klassischer Zeitungs- und Zeitschriftenverlage vom Wohl und Wehe der Werbemärkte aus. Lag das Verhältnis in der Ertragsstruktur zwischen Erlösen aus Leser- und Werbemärkten vor 20 Jahren in vielen Häusern und Segmenten noch bei durchschnittlich 60:40, ist es heute genau umgekehrt und tendiert zu einer Relation von 30:70. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Existenzgrundlage einiger Verlage akut gefährdet ist. Selbst Tausende neu gewonnener Digitalabos während der Pandemie sind mitunter nicht mehr in der Lage, düstere Zukunftsaussichten aufzuhellen, weil sich der Einbruch auf der Werbeseite von zum Teil 70, 80 oder gar 90 Prozent zu katastrophal auf die Gesamtbilanz auswirkt.

Was jetzt passieren muss…

„Die Zukunft wächst in der Krise“, heißt es. Für die Verlagsbranche bedeutet das einerseits, sich neue Zugänge zu Leser- und Nutzermärkten zu schaffen, die Ansprüche und Erwartungen ihrer Abonnenten und Einzelkäufer intensiver als bisher zu analysieren, ihren Themenkanon auf die mit Marktforschungsmethoden entwickelten User- und Buyer-Personas konsequent auszurichten sowie systematisch mit Customer-Experience- und Customer-Journey-Modellen zu arbeiten. Diese in anderen Branchen seit langem und vielfach verwendeten Verfahren werden in Medienhäusern nach wie vor nur sporadisch und rudimentär eingesetzt.

Zum anderen, und das erscheint beinahe noch wichtiger, benötigen wir Ziele! Und das können nicht nur betriebswirtschaftliche Ziele sein.

Welchen Auftrag haben Medien? Einen Informations- und/oder Gestaltungsauftrag? Was wollen wir mit der Publikation erreichen? Wie schaffen wir es, die Werte, Einstellungen, Intentionen und Haltungen der Leser und Nutzer zu treffen, wie überraschen und begeistern wir sie? Wie werden unsere Produkte zu einem Teil ihrer Welt?

Menschen machen Medien

Um diese Fragen beantworten zu können, brauchen wir Menschen. Menschen aus Fleisch und Blut, die im Kreis unserer Leser und Nutzer unterwegs sind – und nicht Redakteure, die am Newsdesk standardisierte Nachrichtenkaskaden in alle Welt posten. Damit schaffen wir keine menschliche Bindung und keine Bindung zu unseren Produkten. Damit schaffen wir lediglich ein mehr oder weniger attraktives Umfeld für Werbekunden – wenn diese nicht ihre Aufträge stornieren…